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Ehre und Rache

Ehre und Rache

Eine Gefühlsgeschichte des antiken Rechts

vonRuch, Philipp
Deutsch, Erscheinungstermin 16.02.2017
lieferbar

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Buch (broschiert)

39,95 €
(inkl. MwSt.)

Informationen zum Titel

978-3-593-43639-5
Frankfurt
16.02.2017
2017
1
1. Auflage
eBook
PDF mit digitalem Wasserzeichen
437
Frankfurt
Deutsch
Antike
Inhalt

Erster Teil: Ehre

I. Menschen ohne Ehre

1. Einleitung

Gegenstand und Zielsetzung 13

Zur Problemstellung der Arbeit 31

Grundzug des antiken Rechts: der nomos tyrannos 46

2. Methodische Vorüberlegungen

Antike Texte als Rechtsquellen 57

Gewohnheitsrecht 66

Gesetzes- und Vertragsrecht 71



II. Der Gewinn der Ehre

1. Ehre und Materie

Die Ehre im Spiegel politischer Anthropologie 82

Zeus' Armut 98

2. Desymbolisierungsresistente Ehren

Der antike Ehrenmaterialismus 106

Die Antastung desymbolisierungsresistenter Ehrenkörper 115

3. Desymbolisierbare Ehren

Die Produktion von Sichtbarkeit und Präsenz 120

Die Ehre im Raum 129

Die Ehre im Leib 136

Exkurs: Grundriss des Ehrgefühls in systematischer Absicht 149

4. Ehre und Recht

Die rechtliche Limitierung der Ehre 160



III. Der Verlust der Ehre

1. Entehrungen im Staatsrecht

Die "Angst vor deshonneur" 170

Vertrag mit dem Recht? 186

2. Entehrungen im Völkerrecht

Die Totalität des Politischen 190

Heraklits ›Drehkreuz‹ von Freien und Sklaven 196

Zweiter Teil: Rache

IV. Zum Verhältnis von Ehre und Gewalt

1. Die Konstruktion aggressionsarmer Gesellschaften

Gefühle aus Ehre in der Forschung 205

Der antimoderne Ehrbegriff 216

Antike Formen der Gefühlskontrolle 222

2. Menschen ohne Rache

Die Blutevidenz der Rache in den antiken Tragödien 227

Die Gewaltevidenz der Rache in Epos und Historiographie 242

Recht und Rache 253

Antike Formen der Gewaltkontrolle: im Treppenhaus der Kultur 270



V. Die Entwicklung des archaischen Racherechts

1. Das homerische Racherecht

Die Humanität der Rache bei Homer 287

2. Das posthomerische Racherecht

Handelsverbote mit der Rache: die Entstehung des archaischen

Blutrechts 299

Gewaltuntertretung: die Kippfigur von Gewaltbereitschaft in

Rachezwang 310

Zur Rechtskollision in der Orestie 323



VI. Das zwischenstaatliche Racherecht

1. Fallbeispiele zum Zielkonflikt von Geld und Rache

Treuhänder der Rache: das Schwert des antiken Völkerrechts 333

Die Annektierung von Schicksalsfolgen: Mytilenes Urteil 346

Die Kosten der Gewalt: der Flächenbrand der Rache 353

Exkurs: In der Gärtnerei der Macht. Ein Lehrstück antiker

Staatsräson 361

Der Angriff Schuldloser: hybris im antiken Völkerrecht 366

Der Zielkonflikt zwischen Reichtum und Rache nach der

Sizilischen Expedition 374



VII. Ausblick

1. Petrischalen des Rechts

Die Demontage der Ehre und die Kultivierung der Würde 378



Schluss 387

Literaturverzeichnis 392

Abbildungsverzeichnis 434

Dank 436







Nach gängiger Auffassung entstand der Rechtsstaat durch die Zähmung der barbarischen Natur des Menschen: Archaische und vormoderne Gesellschaften seien von Konflikten um Ehre und Rache regiert worden, deren Macht im langwelligen Prozess der Zivilisierung gebrochen wurde. Durch Aufklärung und Modernisierung sei die von den Ehrgefühlen entzündete Gewalt wieder eingehegt worden und Humanität an die Stelle der Triebnatur des Menschen getreten - so die gängige Annahme. Dieses Buch zeigt am Beispiel der griechischen Antike auf, dass die Gefühle, die wir gemeinhin mit Ehre und Rache verbinden, durch das antike Recht überhaupt erst geschaffen wurden. Es leistet einen wichtigen Beitrag zu einer politischen Theorie der Wirksamkeit des Rechts und fügt der Gewaltgeschichte des Menschen in der frühgriechischen Antike eine unerwartete Wendung hinzu.
Philipp Ruch ist Philosoph und Gründer des Zentrums für Politische Schönheit.
Einleitung

Gegenstand und Zielsetzung der Untersuchung

Aus der Geschichte der Physik ist die Erkenntnis überliefert, dass ein und dasselbe Naturphänomen, unter zwei Paradigmen betrachtet, mehr oder minder widerspruchsfrei als vollkommen unterschiedlichen Gegenstandsbereichen zugehörig wahrgenommen und konzeptualisiert werden kann. Zwei Physiker aus gegensätzlichen Schulen können denselben Untersuchungskörper vor Augen stellen und Unterschiedliches sehen. Als Thomas KUHN sich damit auseinandersetzte, was wissenschaftstheoretisch geschah, als die Idee des Gases vor dem geistigen Auge des Physikers hin-zutrat, gibt er seinen Beobachtungen die Form eines Arbeitsauftrages: "nicht nur das Gas selbst zu sehen, sondern auch, was das Gas war." Die vorliegende Arbeit ist nach diesem Auftrag gegliedert. Es wird auf die Erkenntnis ankommen, dass ›Ehre‹ ist und was sie ist.

KUHN bezeichnet den Augenblick, in dem ein Physiker zum ersten Mal das Gas ›sieht‹, als "Gestaltwandel" - als Kipppunkt, an dem die alte Wahrnehmung in die neue umschlagen kann. Zwar wird immer wieder bestritten, dass es historisch jemals zu abrupten Umschwüngen in den Naturwissenschaften kam (vielmehr soll sich die alte Vorstellung mit den Implikationen einer neuen Theorie überlagert haben und vermischen), aber gerade aus der Rückschau existiert die Wahlmöglichkeit zweifelsohne, die Welt unvermittelt mit und ohne Gastheorie zu betrachten. Der Begriff ›Ehre‹ enthält vielleicht diese seltene Gelegenheit, die Welt des Politischen mit anderen Augen wahrzunehmen und die neue in eine alte Welt umschlagen zu lassen. Der Vexierpunkt bedarf allerdings der Vorbereitung, des Sehen-Lernens und der Verabschiedung von herkömmlichen Vorstellungen über die Natur von Ehre und Rache.

Analog zu den physikalischen Kernbegriffen ›Kraft‹, ›Raum‹, ›Masse‹ und ›Energie‹ stellen sich auch beim politikwissenschaftlichen Pendant ›Ehre‹ Verständnis- und Übertragungsschwierigkeit ein. Das Selbstverständnis westlicher Gesellschaften scheint nicht auf ›Prestige‹, ›Reputation‹, ›Ansehen‹ oder ›Anerkennung‹ zu gründen, wie sich älteren Autoren die Macht der Ehre aufdrängt. Äquivalenzbegriffe decken die Eigenschaften eines alten Schlüsselbegriffs gemeinhin zu. Zusatzbegriffe wie ›Nachhaltigkeit‹ reichen nicht an das antike Interesse an Unvergesslichkeit heran, das teilweise in den Quellen aufscheint. Es kommt zu einer Spannung zwischen Begriffs- und Phänomenaktualität, die zu Irrtümern und Unterstellungen führt. Dieser Bedeutungsverlust wirkt sogar retroaktiv auf die Erforschung der Geschichte zurück. Das Lemma ›Ehre‹ kommt in zahllosen Nachschlagewerken wie im Metzler-Lexikon Antike schon gar nicht mehr vor.

Otto BRUNNER weist darauf hin, dass die Begriffe, welche Geisteswissenschaftler gedankenlos aus der Alltagssprache aufgreifen und auf das historische Material anwenden, stets Teil des Erkenntnisproblems sind. Die bekannten Begriffe bringen zu Fall, was eigentlich ergriffen werden sollte. Sie sägen das menschliche Verhalten auf Bekanntes nach anderen Vorstellungen zurecht. Deshalb fällt BRUNNERS Wahl bewusst nicht auf einen der hegemonialen politikwissenschaftlichen Deutungsbegriffe wie ›Macht‹ oder ›Prestige‹, sondern er reaktiviert die Originale ›Ehre‹ und ›Fehde‹, um das politische Verhalten einer vergangenen Zeit einzuholen: "Jede politische Geschichte des Mittelalters, die an der Fehde vorbeisieht, versperrt sich selbst den Zugang zu Einsichten, aus denen politisches Handeln im Mittelalter erst verstanden werden kann."

Was zunächst aufgegeben werden muss, ist die Selbstgewissheit überlegener historischer Einsichten. Wie Frank J. FROST darstellt, ist das Wesen der attisch-adligen Politik in frühklassischer Zeit "dominated not by motives of economic gain and certainly not by political ideology, but by pride, honor, self-esteem and the respect of others". In modifizierter Form, aber am deutlichsten, zeichnet Jean-Marie MOEGLIN den epistemologischen Anspruch vor, indem er die Ehre von Politikern für mehr hält "als lediglich eine anekdotische und leicht veraltete Arabeske; sie bestimmte - neben den sehr realen territorialen Einsätzen - zentral ihr politisches Handeln." Die Ehre sei - genauso wie ihre Wiederherstellung durch ›Rache‹ (oder ›Fehde‹) - als politische Kategorie unverzichtbar, um Verhalten zu interpretieren, Entscheidungen zu erklären und Prognosen zu wagen. Als hätte MOEGLIN den Erkenntnisauftrag KUHNS vernommen, nämlich sehen zu lenen, dass Gas ist und was es ist, bezeichnet er Ehre als Kategorie, in der und durch die alles geschieht. Ehre und Rache bilden tragende und tragfähige Fundamente des Politischen.

Die Entscheidung, sich moderneren Begriffen zu verweigern (die Nachkommenden ebenso befremdlich erscheinen dürften ) und auch keinen neuen Begriff mit altem Quellenmaterial anzureichern, sondern stattdessen einen alten Denkhorizont, ein altes Paradigma, zu rekonstruieren, soll Ernst machen mit dem geisteswissenschaftlichen Pendant naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung: untergegangene Schlüsselkategorien kommen zu neuem Recht, nicht nur um das Alte begreif- und erkennbar zu machen, sondern um in ihnen die eigene Zeit sehen zu lernen.

Mit überalterten Begriffen kann am politischen Geschehen der Gegenwart etwas sichtbar werden, das bislang unkenntlich geblieben ist. Der Anspruch, mit aktuellen Begriffen in die Vergangenheit zu leuchten, lässt sich so auf den Kopf stellen, "denn die Vergangenheit birgt wertvolle Kräfte zum Aufbau der Gegenwart und Zukunft." Erkenntnisse werden mitunter weniger dadurch gewonnen, moderne Begriffe der Geschichte aufzunähen, als in scheinbar antiquierten Begriffen die Moderne zu betrachten und durch interpretatio moderna einen Beitrag zur Bewältigung der Gegenwart zu leisten. Es ist zumindest prüfenswert, ob einstmals "gefundene Antworten nicht nur ›modern‹ anmuten, sondern es in vielem auch (noch) sind." Selbsterkenntnis wird durch vergangene Begriffe nicht erschwert, sondern erleichtert. Antiquierte Begriffe reißen den Menschen aus seiner Zeit und stellen ihn auf einen anderen Boden. Die Verheißung ist daher, dass die ›Ehre‹ anderes und mehr sehen lässt - an der Vergangenheit ohnehin, aber auch an Gegenwart und Zukunft.

Als ersten Begriff, der aus der dystopischen Kunstsprache ›Neusprech‹ verschwindet, nennt George ORWELL - vor den politischen Schlachtbegriffen Gerechtigkeit, Moral, Demokratie oder Wissenschaft - den der Ehre. Georg SIMMEL warnt vor diesem Verschwinden: "Eine Gesellschaft, in der der Ehrbegriff verschwände, würde damit ihren sittlichen Verfall bekunden und ihren äusserlichen einleiten." Auch Bernard Mandeville ist die Ehre das verlässlichste Bindemittel des body politic. Ohne sie sagt er der Menschheit voraus, "innerhalb großer Gemeinschaften bald zu tyrannischen Schurken und zu verräterischen Sklaven" auszuarten. Nun lassen sich die Zeitdiagnosen, nach denen die sittlichen Grundlagen der modernen Gesellschaft erodiert sein sollen, kaum noch zählen. Aber ORWELLS apokalyptische Vision einer Gesellschaft, die den Begriff Ehre nicht mehr versteht, ist Wirklichkeit geworden.

In früheren Gesellschaften ist Ehre eine "absolute[n] Herrscherin über die sozialen Beziehungen", ein Schlüsselbegriff "zum Verständnis des Funktionierens von Ordnungssystemen", der "Knotenpunkt sozialhistorischer Forschungsmöglichkeiten", - und zwar grundlegend für das "Selbstverständnis als auch für den Zusammenhalt der Gemeinschaft". Im 21. Jahrhundert ist Ehre dagegen weit davon entfernt, die "Ordnungs-grundlage" des Daseins zu bilden. Ehre wie öffentliche Schande scheinen "in modernen westlichen Gesellschaften und wissenschaftlichen Diskursen eine geringe Rolle zu spielen". Sind wir Menschen ohne Ehre?

In der Selbstbeschreibung von Individuen oder Staaten taucht der Begriff selten auf. Die postheroische Gesellschaft ist im Kern eine "posthonor society", wenngleich deutsche Politiker das semantische Potenzial von Ehrenwörtern unlängst ausbeuteten, um sich als Männer von Ehre zu inszenieren, deren Wort (noch) etwas gilt. Der Vergleich mit dem ganzen unehrenhaften Rest der Gesellschaft sollte Korruptionsbeziehungen mit der beinahe ›klassischen‹ Vorstellung verdecken, dass Ehre sich eigenmächtig über Recht hinwegsetzt und hinwegsetzen kann. Es bleibt beim altmodischen, angestaubten, feudalen und anachronistischen Klang eines Begriffs, zu dem allerhöchstens gegriffen wird, um den eigenen Handlungen einen chevaleresken Glanz zu verleihen: "Die Ehre hat man ins Exil auf ein philosophisches St. Helena geschickt, wo sie ihre verblassenden Epauletten betrachtet und erlebt, wie ihr einst glänzendes Schwert in der salzigen Luft rostet." Ludgera VOGT bestreitet diese Antiquiertheit, indem sie aus Zeitungsartikeln 389 Belegstellen herausfiltert. Damit setzt sie allerdings Gebrauchsfrequenz (oder Begriffskonjunktur) unzulässig mit Aktualität gleich. Ehre mag vielleicht nicht ins Kleine Lexikon untergegangener Wörter gehören. Aber die Dauerpräsenz eines Wortes widerlegt nicht dessen altmodischen Klang, wenngleich die dramatische Wortfeldreduktion innerhalb von zwei Jahrhunderten (von 324 Lemmata in Grimms Wörterbuch auf 99 im Duden) einen gewissen Abwärtstrend markiert.

Bemüht - und gebraucht - wird ›Ehre‹ zumeist für das große Gegen-über des Westens, den Antimodernismus fremder Kulturen, entweder um sich von deren überkommenem Denken abzusetzen oder um "jüngst generierte Konfliktpotentiale der globalisierten Moderne wie zwischen Schiiten und Sunniten" zu verschleiern und die Konsequenzen eigener politischer (Kriegs-)Entscheidungen fernzuhalten. Wenn ein pakistanischer Politiker den Westen als bay ghairat (ohne Ehrgefühl) beschimpft, bleibt der Vorwurf nicht nur unwidersprochen, sondern wird zum Anlass, den so Sprechenden nicht mehr ganz ernst zu nehmen und auf der Höhe der Zeit zu wähnen. Wie James BOWMAN demonstriert, greift unter amerikanischen Politikern sogar eine Scham um sich, den Begriff der Ehre öffentlich zu benutzen, da er den Sprecher in archaischen Denkstrukturen positioniert und dem Anspruch auf Fortschrittlichkeit zuwiderläuft.

Die Ehre ist nicht mehr ›selfevident‹. Ihre enargeia scheint aufgebraucht. Aber wie konnte es dazu kommen? Warum und vor allem wann die Transformation zur "posthonor society" ihren Lauf nahm, darüber existieren unzählige Spekulationen, Datierungsversuche und Erklärungsmodelle: politikwissenschaftliche (Anarchie - Gewaltmonopol), demokratietheoretische (Hierarchie - Egalität), religionstheoretische (Bergpredigt - Rache) und soziologische (Kollektivismus - Individualismus). Bis weit ins 18. Jahrhundert gilt das Streben nach Geld in vielen Gesellschaften als verunehrend. Aus der Dichotomie zwischen Adel und Händlern lässt sich auch ein ökonomisches Paradigma der Ehre gewinnen. Es gibt zudem kulturgeschichtliche (Scham - Schuld) und psychologische Modelle (Ehre - Gewissen). Letztere lassen auf ein gewandeltes Selbstverständnis des Menschen durch die Interiorisierung der Gefühle schließen. Alle diese Ansätze sind eigenartig grobschlächtig, geschichtsphilosophisch und widersprüchlich. Jeder dieser Erklärungsversuche kann durch gegenteilige Befunde falsifiziert werden. Die Datierung eines Vexierpunkts von ehr-affinen zu ehr-aversen Gesellschaften wird schlicht unmöglich. Die chronologischen Unstimmigkeiten seien kurz am politikwissenschaftlichen Ansatz illustriert. Nach dieser Auffassung gehe der Bedeutungsverlust der Ehre mit ›der‹ staatlichen Gewaltmonopolisierung einher. Da private Gewalt-rechte bis in die Gegenwart juristisch nicht kategorisch ausgeschlossen sind, entpuppt sich der Begriff ›Gewaltmonopol‹ allerdings schnell als unterreflektiert und muss für die trennschärfere Differenzierung einem Gewaltvorrang des Staates weichen. Die Hypothese selbst wird aber durch etwas anderes angefasst - durch die beinahe vergessene Geschichte, "dass auch Europäer bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein empfindliches Ehrgefühl kultivierten." Im Sommer 1870 eskalieren Beleidigungen zwischen Frankreich und Deutschland zu einem regelrechten "Duellkrieg". In wilhelminischer Zeit, zu einem Zeitpunkt also, als die Gewalt längst staatlich vorrangig oder monopolisiert sein müsste, ist den Menschen Ehre enorm wichtig. Mehr als zehn Prozent der strafrechtlichen Verurteilungen gehen Jahr für Jahr auf das Konto von Ehrverletzungsklagen. Die Marokko-Krise von 1911 lässt sich kaum mit ökonomischen Interessen, wohl aber mit dem Streben nach Ehre verstehen. Der Erste Weltkrieg wird für Max WEBER "[u]m Ehre, nicht um Änderung der Landkarte und des Wirtschaftsprofits" geführt. Mitten im Krieg wirft er Ernst TROELTSCH vor, "ohne nationales Ehr- u Würdegefühl" zu sein (weil dieser Gaben im Übrigen an französische Kriegsgefangenen nicht verhindert). Nach dem Krieg wird die Besetzung des Rheinlandes als "schwarze Schmach" und "Mulattisierung [...] bislang rein weißer Gebiete" angeprangert. Im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges sieht es kaum besser aus: "Es gibt zahlreiche andere Beispiele, welche die These erhärten, dass das Ehre-und-Schande-Syndrom wenn nicht das entscheidende, so doch ein ganz wesentliches Element der Formulierung von Politik im weitesten Sinne gewesen ist, und es griffe viel zu kurz, wollte man den Verlauf der Innen- und Außenpolitik nur nach den standardisierten rationalen Kategorien bewerten, die uns selbstverständlich geworden sind, obwohl sie es nie waren oder auch sind." BOWMAN arbeitet heraus, dass die Alliierten weder aus weltanschaulichen, noch aus moralischen Erwägungen in den Krieg gegen Hitler ziehen, sondern - passgenau - nach den Regeln von Ehre und Vergeltung. Nicht ohne Humor halten auch Günther SCHLEE und Bertram TURNER dem Pathos der modernen Ehrenferne entgegen: "Man könnte allerdings genauso gut den Text mancher Nationalhymne oder manches Stück europäischer Militärmusik anführen, um die musikalische Verarbeitung des Themas Vergeltung zu illustrieren."

Das Gewaltmonopol oder der Gewaltvorrang des Staates bedingt daher kaum die Abschaffung des Ehrgefühls, sondern dessen Rezentrierung auf den Staat. Der territoriale Flächenstaat bedingt nicht zwangsläufig die Geburt entwürdigter oder entehrter Untertanen, sondern die ›monolithische‹ Verschränkung des Ehrgefühls in kollektivierten Liebes- und ›Hassblöcken‹. Selbst tyrannische Staaten sind nie auf Unterdrückung allein aus, sondern oszillieren zwischen Bedrohen und Mitreißen, Einschüchtern und Ehren.

Verzweifelt über die Defizite der vorhandenen Erklärungsmodelle zur neuzeitlichen ›Unehrlichkeit‹ schreibt Werner DANCKERT: "Man spürt: alle bisherigen Erklärungsversuche bleiben im Peripheren stecken. Die Schwerpunktzone der Sinnknüpfung wird nicht erreicht." Dieses Gravitationszentrum scheinen auch die bisherigen Theoriebildungen zum Ableben der Ehre nicht zu erreichen. Sie sind daher nicht Gegenstand der Untersuchung (obschon sich an ihnen Entscheidendes über die Auswirkungen wissenschaftlicher Prämissen auf die Ergebnisse lernen ließe). Die vorliegende Arbeit versucht nicht primär, die moderne Ehrvergessenheit (aphilotimia) zu erklären oder die Historie ihrer "langwelligen psychischen Energien" nachzuzeichnen. Ziel ist nicht eine Erklärung, warum und wann die Ehre die Köpfe und Herzen der Menschheit verlaßen hat, sondern warum sie diese überhaupt regieren konnte. Es soll nicht um das Verschwinden der Ehre gehen, sondern um ihre Evidenz. Woraus gewinnen Ehre und Rache ihre Handlungs- und Gefühlsmächtigkeit? Weshalb besitzen sie überhaupt gesellschaftsbestimmende Zugkräfte? Ziel ist nicht die Klärung und Datierung der Untergangsfrage, diese erscheint aufgrund der angerissenen spekulativen und widerlegbaren Ansätze als undurchführbar, sondern die Erörterung ihres positiven Gegenstücks: wie wird Ehre möglich.

Mit dieser merklich im Dienst von Leo STRAUSS stehenden Fragestellung legt die Arbeit eine Teilstrecke auf der Suche nach der Ermöglichung der Antike zurück. Erschüttert durch die Entdeckung, dass politische Theoriebildung nicht progressiv verläuft, suchte STRAUSS nach den Bedingungen zur Wiederbelebung des antiken politischen Denkens. Bis dahin herrschte die Gewissheit, dass die politische Philosophie - und mit ihr die Sozialwissenschaften - voran- und fortschreitet: "and therefore that a ›return‹ in philosophy makes as much sense as a return, say, to the medical science of Galen." Die Reaktion der politischen Wissenschaften auf die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts machte für Strauss das Gegenteil eines Fortschreitens offenbar.

Für die Fragestellung, wodurch Ehre und Rache ihre Handlungs- und Gefühlsmacht über den Menschen gewinnen, wären grundsätzlich sämtliche Epochen bedeutsam. Für die vorliegende Untersuchung wurde alles herangezogen, was an Studien über Ehre und Rache existiert. Der Schwerpunkt liegt zwar auf dem Zeitabschnitt von der homerischen bis zur klassischen Zeit der Antike, also auf den drei Jahrhunderten nach der schriftlichen Abfassung der homerischen Epen (um 650 v. Chr. ). Aber die Forschungsergebnisse zu späteren Epochen, die geeignet erschienen, Licht in die antike Dunkelheit zu bringen, bleiben präsent. Niemand wird abstreiten, dass epochenübergreifende Vergleiche legitim wie sinnvoll sein können. Aber in dieser Arbeit kommt es nicht nur zu epochenübergreifenden Vergleichen mit dem Quellenmaterial oder mit Studien zum Mittelalter. Es wird versucht, mit Erkenntnissen aus einer Zeit unvermittelt die andere aufzuschließen.

Es werden die politische Ideengeschichte, mittelalterliche und neuzeitliche Quellen, sowie die dazugehörigen Forschungsarbeiten herangezogen, soweit sie dabei helfen, menschliches Verhalten diachron i.S. einer "Verstehenslehre" zu erschließen und dadurch zu einer "Schwerpunktzone der Sinnknüpfung" vorzudringen. Lässt sich ein solches Vorgehen überhaupt rechtfertigen? Werner RIEß begründet exemplarisch die Notwendigkeit eines diachronen Forschungsansatzes, wenn er schreibt: "Da uns aus der Frühen Neuzeit ungleich mehr Quellen zur Verfügung stehen, lassen sich durch den Vergleich mit den antiken Überlieferungsresten Aussagen der Alten Welt oftmals weit besser verstehen und in ihre soziokulturellen Kontexte einordnen."

Die großen Lücken in der Überlieferung machen es für RIEß notwendig, sich in besser dokumentierten, quellenreicheren Zeiten umzusehen. Dennoch ist das nicht die ganze Wahrheit über das Verfahren, das hier Anwendung findet. Was haben BRUNNERS Einsichten zum mittelalterlichen Fehderecht neben Erkenntnissen zur römischen Historiographie, haftungsrechtliche Fragen, die Josef KOHLER in einem bahnbrechenden, längst vergessenen Buch über die in Shakespeares Werk kristallisierten Rechtsauffassungen aufarbeitet, neben Ausführungen zur fürstlichen Ehre verloren - und all das in einer Studie, die sich mit der griechischen Antike beschäftigt? Was sind die Kosten dieser Näherungsweise? Welche methodischen Probleme muss sie aufwerfen?

Methodologisch ist dieser Ansatz geeignet, die Ergebnisse an sich in Zweifel zu ziehen. Ein Beispiel: Die Probleme, mit dem Verständnis des mittelalterlichen Fehderechts eine Stelle bei Thukydides aufschließen zu wollen, sind nicht zu leugnen. Können BRUNNERS Erkenntnisse über die gewaltgehegten Beziehungen der Fehde dabei helfen, Ereignisse aus dem Peloponnesischen Krieg nachzuvollziehen? Die Frage ist eher, welche Erklärungen für den nach damaligen wie heutigen Maßstäben überraschend gewaltarmen Auftakt des griechischen Bürgerkriegs überhaupt zurate gezogen werden dürfen. Gäbe es rechtsgeschichtliche Vorarbeiten zur Anwendung des mittelalterlichen Fehderechts auf die antiken Gewaltkonflikte, stünde die Argumentation methodologisch abgesichert da. So aber dauert es nicht nur lange, BRUNNERS Arbeit zu finden, sondern auch seine Relevanz in Thukydides' Schilderungen wiederzusehen. Es gibt weder Vorarbeiten, die die Bedeutung von BRUNNERS Thesen für die Antike ausgelotet hätten, noch Autoren, die sich mit dem mittelalterlichen Fehderecht und seiner Anwendung auf die Antike befasst hätten. Das Forschungsfeld liegt brach und der Verfasser kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das mit Vorannahmen zusammenhängt, die im zweiten Teil dieses Buches ausgeführt werden.

Für das methodische Verfahren, immer wieder neu aus der Zeit zu springen, um eben diese verstehen zu lernen, muss der Leser im Voraus um Nachsicht gebeten werden. Es wird nicht immer ersichtlich, bezogen auf welche Zeit Aussagen zu welcher Gesellschaft herangezogen werden, um die Eigentümlichkeit antiken Verhaltens zu deuten. Aussagen aus der Sekundärliteratur, die sich auf andere Epochen beziehen, unmittelbare Beweiskraft für die Antike zuzusprechen, ist mit den Konventionen auch unvereinbar. Ein gewisser Zug argumentativer wie diskursiver Transhistorizität macht daher den Charme wie - je nach Ansicht - großen Fehler der Untersuchung aus, ohne den der Gewaltgeschichte des Menschen mit der Antike nicht ein neuer, unerwarteter Abschnitt hätte eingeschrieben werden können.

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