Sie ist Astrophysikerin und kämpft im »Land der Gegenwart« mit ihrer Doktorarbeit. Sie kommt aus dem »Land der Vergangenheit«, einem Ort, der in ihrer Erinnerung durch persönliche und politische Tragödien belastet ist. Ihr Partner ist Gerichtsmediziner, der die Knochen von Opfern staatlicher Gewalt analysiert und...
Sie ist Astrophysikerin und kämpft im »Land der Gegenwart« mit ihrer Doktorarbeit. Sie kommt aus dem »Land der Vergangenheit«, einem Ort, der in ihrer Erinnerung durch persönliche und politische Tragödien belastet ist. Ihr Partner ist Gerichtsmediziner, der die Knochen von Opfern staatlicher Gewalt analysiert und sich gerade von einer Explosion auf einer Baustelle erholt, die ihn fast getötet hätte. Sie wird von einer Schreibblockade geplagt und wünscht sich, sie würde krank, um eine Entschuldigung für ihre mangelnden Fortschritte zu haben. Dann treten bei ihr mysteriöse Symptome auf. Während ihre Angst wächst, wird die Anziehungskraft der Vergangenheit stärker und stärker, und ihre Familie rückt ins Blickfeld: der verwitwete Vater, die Stiefmutter, die Geschwister. Jede und jeder von ihnen hat eigene Erfahrungen mit Krankheit und Gewalt gemacht, und schließlich werden die Systeme aufgedeckt, die sie zusammenhalten und zugleich atomisieren. Nervensystem von Lina Meruane ist die außergewöhnliche klinische Biographie einer Familie - voller Zuneigung und Groll, dunklem Humor und verschütteter Geheimnisse, in der Traumata als Krankheiten spürbar und sichtbar werden - Krankheiten, die nicht nur den Körper, sondern auch die Familien und die Geschichte der Länder, in denen wir leben, heimsuchen können. Ein elektrisierender Roman über Krankheit, Vertreibung und das, was uns zusammenhält.
LINA MERUANE gilt als eine der profiliertesten Stimmen der chilenischen Gegenwartsliteratur. 1970 kam sie in Santiago de Chile zur Welt, seit 2000 lebt sie in New York und unterrichtet dort Lateinamerikastudien an der NYU. Sie ist Gründerin und Direktorin des in New York ansässigen unabhängigen Verlags Brutas Editoras. Meruane debütierte 1998 mit dem Erzählband Las Infantas; inzwischen ist ihr OEuvre auf ein vielgestaltiges Werk angewachsen, das Romane ebenso umfasst wie Essays zur Palästinafrage (Volverse palestina, 2013) oder eine Anthologie über die Spuren von Aids in der lateinamerikanischen Literatur. Neben Auszeichnungen in ihrer Heimat Chile erhielt sie 2011 den Anna-Seghers-Preis für Internationale Literatur und 2017 ein Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Nervensystem ist ihr fünfter Roman, der 2019 auf Spanisch und 2021 auf Englisch erschien und in viele Sprachen übersetzt wird.
»Die Zeit zählt nicht, doch verstreicht, der Tag ist da. Sie durch quert Türen, begibt sich wieder ins Magnetfeld und streckt sich, wieder, auf der Resonanzliege aus, die in die Röhre fährt. Und sie schließt die Augen, damit die Felder sie durchdringen, ohne sie zu berühren, und öffnet sie und fragt sich abermals, wie die Decke im Raum nur so makellos sein kann, wenn alles andere verfällt, und sie steht auf von ihrem Körper, zieht ihn an und geht nach Hause und schläft und träumt lebhaft und wacht so erschöpft auf, wie sie sich hingelegt hat, duscht lustlos, reiht Wörter Sätze Fossilien anderer Zeitalter aneinander und geht schwerfällig hinaus, steigt in dreckige U-Bahn-Wagen, die die Stadt durchqueren, rasch wie die Tage, ohne Sinn, ohne Richtung, einer nach dem anderen, eins nach dem anderen, nach dem anderen. Und jetzt ruft die Assistentin von der Neurologie an, um ihr mitzuteilen, dass die Entzündung im Rückenmark zurückgegangen ist. Das erwartungsvolle Atmen der Assistentin füllt die Leere, die sie mit ihrem Schweigen gräbt. Das sind gute Nachrichten, nicht wahr? Die Frage klingt nach Flehen. Und sie versteht nicht, warum sie sich dieses Gespräch so oft in ihrer Muttersprache wiederholt. Das gerade in einer anderen stattgefunden hat.«
»Lina Meruane ist eine begnadete und reflektierte Schriftstellerin, die versteht, wie politische Traumata für immer im menschlichen Körper gespeichert werden.« The New York Times
»Lina Meruanes Schreiben ist von großer literarischer Kraft: Es entspringt den Hammerschlägen des Gewissens, aber auch dem Unfassbaren und dem Schmerz.« Roberto Bolaño